Sola Scriptura

Allein die Schrift?

Martin Luther stellte u.a. das Prinzip „Sola Scriptura“ auf, dem sich alle weiteren Reformatoren und protestantischen Glaubensrichtungen anschlossen. Es bedeutet: Die alleinige Grundlage für die christliche Lehre ist die Heilige Schrift.

Andreas Theurer legt sehr anschaulich dar, dass jeder Versuch, einen Gegensatz zwischen Bibel und kirchlicher Lehre zu konstruieren, vollkommen unlogisch ist und den geschichtlichen Fakten widerspricht. Denn das Neue Testament ist eine Frucht der Kirche und nicht umgekehrt. Erst wenn dieses nach Theurer eindeutig falsche Prinzip des Protestantismus überwunden wird, „steht der Weg zur Einheit offen“.

 

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Das Haupthindernis für eine Verständigung zwischen dem Protestantismus und den traditionellen Kirchen ist das „Sola scriptura“, zu Deutsch „Allein die Schrift“. Es ist das Grundprinzip des Protestantismus und ich denke, man kann es ohne weiteres als das protestantische Dogma schlechthin bezeichnen.

„Wo steht das in der Bibel?“

Solange man das nicht verstanden hat, führt jedes ökumenische Gespräch zwangsläufig zu Missverständnissen. Protestantisches Denken kommt nämlich bei theologischen Diskussionen über kurz oder lang immer zu der Frage: „Wo steht das in der Bibel?“ Und wenn der katholische Gesprächspartner keine entsprechende Stelle anzugeben weiß, ist für den Protestanten klar, dass der Katholik Unrecht hat. Auf diese Weise fallen für den Protestanten mangels Schriftbeleg insbesondere die Marien- und Heiligenverehrung, das Papstamt, die Apostolische Sukzession, das Fegefeuer, sowie fünf der sieben Sakramente weg. Ist eine solche theologische Reduktion nun eine notwendige und heilsame Rückbesinnung auf das allein Wichtige am Glauben, oder ein entsetzlicher Kahlschlag, der zur Verarmung des Glaubens und der Frömmigkeit führt?

Gegensatz zur apostolischen Tradition

Das ist übrigens nicht nur eine Frage, die Katholiken und Protestanten trennt. Sie trennt den Protestantismus von allen Kirchen, die unmittelbar aus der Urkirche hervorgegangen sind, also auch von den von Rom getrennten Ostkirchen und den Altorientalen („Orthodoxe“, „Miaphysiten“ bzw. „Monophysiten“, „Nestorianer“). Das „Sola scriptura“ ist auch nicht das Auslegungsprinzip der Apostel, wie es sich viele Protestanten vorstellen, sondern eine spätmittelalterliche Idee, die – im protestantischen Extrem – die Wurzeln zur apostolischen Tradition geradezu abschneidet.

Unverfälschtes Gotteswort?

Das protestantische Selbstverständnis ist stark geprägt von dem Bewusstsein, durch Luther die Bibel und damit den einzig verlässlichen Zugang zu den Wahrheiten des Glaubens zurückgewonnen zu haben. „Evangelisch“ nannte man sich, weil man meinte, im Unterschied zu den „Altgläubigen“ (Katholiken) das Evangelium zu kennen und danach zu leben. In der reformatorischen Parole „Das Wort sie sollen lassen stahn“ (vertont im Lutherlied „Ein feste Burg ist unser Gott“) verdichtet sich beispielhaft die Vorstellung, die Katholiken würden die Bibel verfälschen und allerlei zusätzliche Lehren dazudichten, während die Reformatoren das „unverfälschte“, „reine“ und „klare“ Gotteswort auf den Leuchter stellten und von allen menschlichen Zutaten reinigten. Diesem Ziel diente demzufolge auch Luthers Übersetzung der Heiligen Schrift, die im Protestantismus zum allgemein zugänglichen Volksbuch wurde, während im finsteren Mittelalter die Kirche die (lateinische) Bibel angeblich eifersüchtig gehütet und dem Volk so das Evangelium vorenthalten habe. Aber hat nicht die Kirche tatsächlich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts das private Bibellesen verboten?

Das alles bestimmende Prinzip Luthers

In Vorläufern fassbar wird die Idee des „Sola-Scriptura“ erstmals bei der mittelalterlichen häretischen Bewegung, die auf Petrus Valdes zurückgeht und sich als „Waldenser“ einen Platz in der Kirchengeschichte erkämpft hat. Der Grundgedanke war schon damals die Reinigung des Glaubens von einer Vielzahl von kirchlichen Bräuchen und theologischen Lehren, die nicht unmittelbar aus der Bibel abgeleitet werden können. Zum alles bestimmenden Prinzip, zur Schablone, ja zum Prokrustesbett[1] der Theologie wurde das „Sola-Scriptura“ freilich erst durch Luther, dem sich die übrigen Reformatoren in dieser Frage uneingeschränkt anschlossen.

Die Heilige Schrift ist Frucht der Kirche

Die kirchliche Theologie – im Osten wie im Westen – wurde sich durch die Auseinandersetzung mit dem Protestantismus wieder neu bewusst, dass die Heilige Schrift eine Frucht der Kirche ist, und nicht umgekehrt die Kirche eine „creatura verbi“ (Schöpfung durch das Wort). Zuerst war die Kirche. Sie feierte schon seit Jahrzehnten ihre Gottesdienste, praktizierte Sakramente und sakramentenähnliche Riten und verkündigte das Evangelium von Jesus Christus, lange bevor Paulus seine Briefe und die Evangelisten ihre Evangelien geschrieben hatten. Wonach richteten sie sich in dieser doch so prägenden Zeit? Natürlich nach der Lehre der Apostel, die mit Jesus gegangen waren und ihn und seine Lehren noch persönlich kennengelernt hatten!

Protestantische Sicht der „Amtskirche“

Nach fast allgemein verbreiteter protestantischer Vorstellung hätten nun nach dem Tod der Augenzeugen die frisch entstandenen neutestamentlichen Schriften an ihre Stelle treten und die Richtschnur für das Gemeindeleben sein sollen. Stattdessen rissen aber in dieser Sicht die Bischöfe und mit ihnen die „Amtskirche“ die Macht in der jungen Kirche an sich und in den folgenden fast anderthalbtausend Jahren geriet das einfache und klare Wort Gottes durch ihre Schuld immer mehr in Vergessenheit, ehe die Reformatoren es wieder entdeckten.

Kirchliches Amt und Sakramente gehen voraus

Selbstverständlich wussten die Apostel und Gemeindeleiter der ersten Generationen aber auch ohne die neutestamentlichen Schriften, wie man tauft (das steht nämlich nicht in der Bibel!), wie man Eucharistie feiert (lediglich auf ein paar Spezialfragen ging Paulus gegenüber den Korinthern wegen deren Missbräuchen ein!), oder wie man das kirchliche Amt weitergibt (1 Tim 4,14; 2 Tim 1,6 und Tit 1,5 erklären es nicht, sondern setzen es offenbar als bekannt voraus!) usw. Nirgendwo mussten das Bischofsamt oder die Sakramente gegen Widerstand durchgesetzt werden, wie es doch zu erwarten gewesen wäre, wenn sie „unbiblische“ Neuerungen gewesen wären.

Vollmacht der Schriftauslegung

Dieselbe Kirche, in deren Mitte die Heilige Schrift entstand und die den Kanon festlegte, hat nach altkirchlicher Überzeugung selbstverständlich sowohl die Vollmacht als auch die Pflicht, die Bibel im Sinne der Apostel auszulegen. Wohin es dagegen führt, wenn die Auslegung privatisiert und von der Tradition der Kirche getrennt wird, zeigt sich ja eben in der unübersehbaren Vielfalt von protestantischen Gemeinschaften, die sich zwar alle auf die Heilige Schrift (in ihrer jeweiligen Auslegung) berufen, aber dennoch in zentralen Fragen so uneins sind, dass sie daraus eine Rechtfertigung für die weitere Zerteilung des Leibes Christi ableiten zu können meinen.

Eingriffe Luthers in die Heilige Schrift

Am Rande sei noch auf die Tatsache hingewiesen, dass Katholiken und Protestanten durchaus noch nicht einmal dieselbe Textgrundlage meinen, wenn sie von der Heiligen Schrift sprechen. Während die Kirche sich seit der Zeit der Apostel an die griechische Übersetzung des Alten Testaments (die „Septuaginta“) hielt, übersetzte Luther aus der hebräischen Fassung, wie sie das Judentum seit der Trennung von den Urchristen und in Abgrenzung zu ihnen favorisierte. Das bedeutet, dass vom Alten Testament in der lutherischen Fassung einige Bücher (u.a. Weish, 1-2 Makk, Tob, Judith, Sir) nur als „apokryph“ (verborgen) bezeichnet und natürlich auch nicht als Grundlage für einen „Schriftbeweis“ anerkannt werden.

Sogar das Neue Testament musste sich von Luther Eingriffe gefallen lassen, auch wenn sie nicht so schwerwiegend sind, sondern nur die Reihenfolge der Bücher betreffen. Den Jakobusbrief bezeichnete er als „stroherne Epistel“ und setzte ihn mit dem Hebräerbrief an den Schluss der Briefe, weil ihr Inhalt so wenig „Christum treibet“.

Idee von der „Mitte der Schrift“

Daran wird schon das nächste Problem deutlich, das sich der Protestantismus mit seinem „Sola-Scriptura-Prinzip“ eingehandelt hat: Wenn sich biblische Textstellen (scheinbar) widersprechen, welcher soll man folgen? Schon Luther behalf sich in dieser Frage mit der Idee von der „Mitte der Schrift“, als die er die Rechtfertigungslehre verstand und an der er all das ausrichtete, was nicht so recht dazu passen wollte. Bis heute ist es ein typisches Phänomen, dass jeder protestantische Theologe sich letztlich selbst darüber klar werden muss, welchem „Kanon im Kanon“ er im Zweifelsfall folgen und welche Bibelstellen er als Werkzeug benutzen will, um damit die anderen zurechtzubiegen.

Auslegungstradition der Kirche

Natürlich steht auch die katholische Theologie immer wieder vor der Herausforderung, Bibeltexte in ihrem Verhältnis zueinander zu gewichten und die einen im Licht der anderen auszulegen. Welch unschätzbaren Vorteil es dabei bietet, sich in die Auslegungstradition der Kirche stellen zu können und nicht nur der subjektiven eigenen Einschätzung folgen zu müssen, war wohl noch nie so deutlich wie heute und wir tun sicher gut daran, uns an die Mahnung des Apostels Petrus zu halten (2 Petr 1,20f.): „Bedenkt dabei vor allem dies: Keine Weissagung der Schrift darf eigenmächtig ausgelegt werden; denn niemals wurde eine Weissagung ausgesprochen, weil ein Mensch es wollte, sondern vom Heiligen Geist getrieben haben Menschen im Auftrag Gottes geredet.“

Übereinstimmung mit der Lehre der Apostel

So kann aus katholischer (und altkirchlicher) Sicht kaum oft genug betont werden: das „Sola-Scriptura-Prinzip“ ist schon im Ansatz falsch und führt deshalb notwendig in die Irre. Entscheidend für die Beurteilung einer kirchlichen Lehre oder einer Frömmigkeitsübung ist nicht, ob sie eine Begründung in der Heiligen Schrift hat, sondern ob sie mit der Lehre der Apostel übereinstimmt oder ihr doch wenigstens nicht widerspricht. Die Kirche muss nicht biblisch sein, sondern apostolisch! Auch die neuen Dogmen (Unbefleckte Empfängnis und leibliche Aufnahme Marias in den Himmel, Unfehlbarkeit des Papstes) dürfen daher nicht bloß deshalb für falsch erklärt werden, weil sie nicht in der Bibel stehen. Für ernsthaft gläubige Protestanten stellt normalerweise das „Allein die Schrift“ das Haupthindernis für die Ökumene dar, weswegen sie all das, was für den Katholizismus zwar wichtig, aber nicht unmittelbar aus der Bibel ableitbar ist, ablehnen müssen. Diese Denkschablone abzulegen, wäre daher nach meiner Überzeugung der wichtigste Schritt auf dem Weg zur Überwindung der Trennung – für den einzelnen Christen ebenso wie für die ganze Kirche.

 

Der Artikel erschien erstmals in der Zeitschrift „Kirche heute“, Aug./Sept. 2016.