Luther jenseits protestantischer Apologetik und Hagiographie
Von Dr. h.c. Michael Hesemann
Bekanntlich lehnt der Protestantismus die Heiligenverehrung ab. Aus den reformierten Kirchen wurden die Statuen der Heiligen und Märtyrer, der Kirchenlehrer und der Apostel, ja sogar der Gottesmutter entfernt. Unter dem Motto „sola scriptura“ hat ohnehin nur Geltung, was in der Heiligen Schrift steht, womit man gleich rund 1500 Jahre Kirchengeschichte und theologische Tradition, Konzilsbeschlüsse und Dogmatik ausklammert. Wenn eine Person dagegen für den „evangelischen“ Christen die Rolle eines Kirchenlehrers und eines Vorbilds im Glauben und damit gewissermaßen eines Heiligen angenommen hat, dann ist es die Gestalt des Martin Luther.
So wird Luther standesgemäß nicht etwa, wie zum Beispiel 2008/8 der Völkerapostel Paulus, bloß mit einem bescheidenen Gedenkjahr gewürdigt. Nein, eine ganze Lutherdekade muss her, denn, so die offizielle homepage „Luther 2017“ der EKD, „Ein Ereignis, das thematisch und strukturell so komplex ist, wie das 500-jährige Reformationsjubiläum, will gut vorbereitet sein und bedarf einer entsprechenden Vorlaufzeit. Zur angemessenen Vorbereitung und Hinführung auf das Jubiläumsjahr 2017 wurde deshalb die Lutherdekade ins Leben gerufen.
Die Lutherdekade lädt von 2008 bis 2017 mit vielfältigen Veranstaltungen und Reiseangeboten zur Spurensuche an Originalschauplätzen der Reformation ein. Landesweit widmen sich Ausstellungen, Konzerte und andere kulturelle Veranstaltungen den verschiedenen Aspekten der Reformation. Historische Stadtfeste, Sommertheater und Festivals hingegen zeigen, dass die Lutherdekade ein Grund zum Feiern ist.“
Tatsächlich schildert die protestantische Hagiographie Luther als regelrechte Jahrtausendfigur von fast übermenschlicher Größe. Sein Berufungserlebnis während eines Gewitters, das asketische Mönchsleben, die steile Karriere als Theologieprofessor, der es wagte, Rom und dem Papsttum zu trotzen, der ikonographische Thesenanschlag zu Wittenberg, die Verbrennung der Bannandrohungsbulle, die Reichsacht durch das Wormser Edikt, die Flucht auf die Wartburg, wo er dem Teufel trotzte und die Bibel ins Deutsche übersetzte, was, so die EKD, „die Entwicklung der deutschen Sprache“ maßgeblich beeinflusste, Heirat, Vaterfreuden und Bildersturm. Über allem schwebend als geradezu prophetisches Motto sein „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“: Heroisch und ungebrochen, prinzipientreu und nur Gott und seinem Gewissen verpflichtet, ein wahrhaft deutscher Held.
Doch war er das wirklich? War seine Ausgangsmotivation allein die Suche nach der Wahrheit, die Sehnsucht nach einem gnädigen Gott, die auch Papst Benedikt XVI. ihm bei seinem Besuch in Erfurt 2011 zugute hielt? Können auch wir als Katholiken von Luther lernen, wie es Kardinal Walter Kasper forderte? Kann er uns also als „Lehrer im Glauben“ dienen, wie auch Kardinal Karl Lehmann behauptete? War seine Reformation tatsächlich ein Segen für die Kirche in Deutschland und der Welt? Kurzum: Gibt es einen guten Grund, ihn zu feiern, nicht nur ein Jahr, sondern eine ganze Dekade lang?
Kein Zweifel: Jede pauschale Dämonisierung Luthers und des Protestantismus würde den fruchtbaren ökumenischen Dialog stören, den die katholische Kirche seit Jahrzehnten mit den Protestanten führt und wäre schon daher auch kirchenpolitisch unerwünscht. Ohne Frage hat die Christenheit Martin Luther wichtige Impulse zu verdanken, schon weil seine Reformation Auslöser der Gegenreformation, jener segensreichen Selbstreinigung der Kirche war. Auch die Liturgie in der Volkssprache, die Verbreitung der Heiligen Schrift beim Volk und eine ganze Tradition christlichen Liedgutes gehen auf Impulse Martin Luthers zurück. Aber eben auch eine Radikalisierung des christlichen Antijudaismus, des Hexenwahns, die anfangs ungewollte Kirchenspaltung, die Bauernkriege, die Spaltung Deutschlands bis hin zum verheerenden Dreißigjährigen Krieg, eine Entsakramentalisierung seiner Gemeinschaften, ein Schnitt durch die Nabelschnur der Tradition, eine anachronistische Theologie und dann, nach der Entsorgung der Exegese durch die Kirchenväter als Folge des „sola scriptura“-Wahns, als Nachwirkung die historisch-kritische Exegese und damit die Verstümmelung der Heiligen Schrift im Prokrustes-Bett des Rationalismus: Alles, was vom Wirken Gottes in der Geschichte zeugt, wird dabei bestritten, es bleibt nur eine zeitgeistkonforme Gutmenschenethik und der König des Universums wird zum gescheiterten Wanderprediger degradiert. Wie wenig der Protestantismus dabei die Herzen seiner Gläubigen erreichte, das zeigt die Entwicklung nach einem halben Jahrhundert kommunistischer Herrschaft in Osteuropa. Dort, wo die Menschen vor der Machtergreifung der Kommunisten orthodox oder katholisch waren, fanden sie nach dem Fall der roten Diktaturen wieder in Massen zum Glauben zurück, finden wir heute die strahlendsten Beispiele erneuerter Frömmigkeit: etwa in Polen und Ungarn, in Russland und der Slowakei. Dort, wo die Menschen zuvor protestantisch waren, in der DDR wie in Tschechien, ließ man sich mühelos zum Atheisten umschulen und ist dies noch heute. Auch die heutige Misere der Evangelisch-lutherischen Gemeinschaft in Deutschland zeugt nicht gerade vom Segen Gottes. Wo eine Frau Käßmann zeitgeistkonforme Gutmenschenparolen als Theologie verkauft, eine Frau Göring-Eckart aus grünen evangelische und aus evangelischen grüne Parolen fabriziert und wo eine rheinische Landeskirche die Homo-„Ehe“ propagiert und praktiziert, glänzt der Heilige Geist ganz offenbar durch Abwesenheit.
Nun mahnt uns der Herr im Matthäus-Evangelium, achtsam zu sein und keinen falschen Propheten auf den Leim zu gehen. Von „falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber reißende Wölfe sind“, ist da die Rede und vom Rat des Herrn: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“ Dabei ist selbst die Berufung auf Ihn kein Kriterium: „Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr! wird in das Himmelreich kommen, sondern wer den Willen meines Vaters tut, der im Himmel ist.“ (Mt 7,15-23), und so sind wir als Christen aufgerufen, unkritischen Personenkult auch von Menschen, die sich selbst wie Glaubenslehrer gerieren, zu vermeiden. Die Kirche tut gut daran, selbst noch so fromme Menschen vor einer Verehrung zunächst gründlich zu untersuchen, in einem Selig- oder Heiligsprechungsprozess, der in der Regel viele Jahre, oft Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte dauert. Darum muss auch vor einer Quasi-Kanonisierung Martin Luthers zum „Lehrer im Glauben“ (Kardinal Lehmann) dringend gewarnt werden. Zunächst einmal muss auch seine Lebensführung und muss sein Gesamtwerk einer gründlichen Prüfung unterzogen werden. Dabei gab es vor der Reform des Heiligsprechungsverfahrens durch Papst Johannes Paul II. den Promotor Fidei, umgangssprachlich „Advocatus diaboli“ genannt, dessen Aufgabe es war, kritische Einwände gegen die Kanonisierung einer Person zu sammeln und vorzutragen. Diese Aufgabe möchte ich heute einmal in Sachen Luther übernehmen. Dabei befürworte ich ausdrücklich jeden ökumenischen Dialog. Die Frage ist nur, ob eine Würdigung der Person Luthers dabei der richtige Weg ist oder ob es sinnvoller wäre, Luther als Hindernis gemeinsam zu überwinden. Dabei spricht einiges dafür, dass Luthers Leben der eigentliche Schlüssel zum Verständnis seiner Lehren und Schriften ist.
Wer also war Dr. Martin Luther und wie wurde er zum Reformator?
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Download des kompletten Vortrags hier.