Der mittelalterliche Revolutionär

Für viele gilt Martin Luther als Vordenker der Moderne. Kein Urteil könnte falscher sein. Wie Gott auf krummen Zeilen gerade schrieb: Dem Reformator verdankt die Kirche eine katholische Hochkultur

von Erik Maria Ritter von Kuehnelt-Leddihn (1909-1999)

Die Überzeugung, dass die Moderne ursprünglichst durch die Reformation bedingt wurde, ist recht allgemein verbreitet und ich habe selbst vor fünfzig Jahren daran geglaubt und diese Ansicht auch in meinen Schriften vertreten. Der unmittelbare Eindruck, den ein katholischer Betrachter bei diesem geschichtlichen Ereignis haben muss, ist auch der einer Katastrophe. Die Einheit des westlichen Christentums war zerbrochen, jahrhundertelang folgten böse, ja sogar kriegerische Auseinandersetzungen. Aber ein Unglück in der Kirchengeschichte gleicht oft dem im Leben eines Menschen. So kann sich das Scheitern einer „großen Liebe“ schließlich als ein wahres Glück herausstellen, wenn es schlussendlich eine herrliche Ehe mit einem anderen Partner ermöglicht. Geschichtliche Ereignisse dürfen nicht danach beurteilt werden, wie sie augenblicklich empfunden wurden, sondern nur, wie sie sich schließlich auswirkten. Man denke da lediglich an die Verwundung des heiligen Ignatius. Es gibt überdies auch eine felix culpa!

Immer wieder hörte ich in meinem Leben von ökumenisch gesinnten evangelischen Christen, dass man doch den Graben zwischen den Bekenntnissen zumindest bei uns im Norden zuschütten könnte, indem man Luther in Rom heilig spräche. Eine Aussage, die gut gemeint, jedoch sehr naiv ist, denn Luther, wie Karl Pfleger heraushob, war zwar ein echter Ringer mit Christus und sogar ein sehr frommer Mann, aber doch wahrhaftig kein „Heiliger“. Er war nun einmal ein ganz anderer Mensch, als ihn sich der durchschnittliche katholische oder auch evangelische Christ vorstellt, und es ist für uns – Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts – sehr schwer, ihn und seinen Glauben richtig zu sehen. Wir wissen vielleicht alle, was der „Protestantismus“ heute ist, aber gerade dieses Wissen verstellt uns völlig den wahren Doktor Martinus. Was er zu seinen Lebzeiten bewirken wollte, ist in den meisten Dingen das genaue Gegenteil von dem, was unter seinem Etikett heute tatsächlich vorhanden ist. Es hat hier eine Wandlung stattgefunden, die größtenteils mit der Ersten Aufklärung anfing, die wiederum die Französische Revolution mit allen ihren satanischen Schrecken gebar, und die Luther (genau wie Calvin) entrüstet von sich gewiesen hätte. Als die linken, bücherverbrennenden, nationaldemokratischen Studenten auf der Wartburg den dreihundertsten Jahrestag der Reformation anno 1817 feiern wollten und das Rot der Revolution den Reichsfarben anhängten, hätte ein Lutherus Redivivus sie zum Teufel gejagt… Eines ist sicher: Luther war kein „Protestant“ und hätte sich energisch gegen dieses üble Etikett gewehrt. Er glaubte noch an drei Sakramente, ging jede Woche zur Beichte, betrachtete die Wiederverheiratung Geschiedener als „Hurerei in Permanenz“ und als ihm, der frühzeitig alterte, einmal einige Tropfen des Weines bei der Kommunionausteilung zu Boden fielen, kniete er nieder, um sie aufzulecken. Die Gläubigen, gerührt über diesen frommen Mann, brachen in Tränen aus.

Luthers Kampf gegen die Modernität der Päpste

Heute aber glaubt die große Mehrheit der evangelischen Christen – und der statistische Durchschnittskatholik gibt es zögernd zu –‚ dass durch die Reformation die moderne Zeit zumindest in ihren Grundlagen geschaffen wurde, denn Luther sei ja doch „seiner Zeit voraus“ gewesen. Das aber ist ein ganz gewaltiger Irrtum. Luther – wie auch Calvin – war ein erzkonservativer Antiintellektueller, der gegen die damalige Moderne kämpfte, das heißt gegen den Geist der Renaissance und des (christlichen) Humanismus. Er kannte diese zwar „literarisch“, aber erst sein Winter in Rom, 1510/11, klärte ihn richtig auf, und er, der sein ganzes Leben hindurch ein bitterer Feind des Heidentums war, reagierte energisch. Uns wurde immer gesagt, dass ihn die Verworfenheit der hohen Geistlichkeit Roms entsetzt hätte, aber da müssen wir uns daran erinnern, dass das Mittelalter überhaupt nicht puritanisch war, weder in Rom, noch in den deutschen Ländern, Skandinavien oder Frankreich, und dass die Sünden contra sextum wenig ernst genommen wurden. Sein Sexualschock ist ein frommes Ammenmärchen. Doch sein „Antipaganismus“ zeigte sich bei den Marburger Gesprächen mit Zwingli über das Altarsakrament und die Realpräsenz, an der er festhielt. Als Zwingli, der wie Melanchthon als Humanist gelten konnte, Luthers Hände ergriff und ihm sagte, dass sie sich da doch vielleicht vergeblich stritten, sich nach ihrem Tod aber im Himmel mit den großen Weisen der Antike treffen würden, mit Philosophen wie Sokrates, Plato und Aristoteles, empörte sich Luther über die Vorstellung, dass diese ungetauften Heiden nicht in den ewigen Feuern der Hölle schmorten. Zwingli wandte ein, dass diese edlen Männer doch auch ihrem Gewissen gefolgt waren, aber da protestierte der sehr jähzornige Luther mit lautstarken Tiraden. Wenn Zwingli so rede, sei er überhaupt kein Christ, und er bedauere es, in einer Diskussion mit ihm ganze Tage verschwendet zu haben. Mit anderen Worten: Luther ist der mittelalterliche Reaktionär, der sich gegen die von den Päpsten geförderte Renaissance, gegen den Humanismus wendet, ein Mann, der in ein imaginäres Frühchristentum zurückkehren will, der natürlich auch antiintellektuell ist und den Verstand als Hure betrachtet, als einen Esel, den man mit Stockschlägen in jede beliebige Richtung treiben kann. Nicht durch den Verstand kann der Mensch gerettet werden, nicht durch gute Werke, sondern nur durch den Glauben allein, also sola fide, wobei er willkürlich das sola dem Text der Vulgata hinzugefügt hatte, also einen „blinden“ Glauben verlangte, der der Scholastik fremd war, die wiederum Luther kaum kannte. Die Wurzeln seiner Religiosität liegen im späten Mittelalter, das viel eher von der Mystik als von der Ratio bestimmt war. Hierzu kann man Nicolás Gómez Dávila zitieren, der sagte, dass, wenn man dem Europäer das Christentum und die Antike wegnähme, nur ein bleicher Barbar übrigbliebe. Und Luther fehlte die Antike – daher auch sein Hass auf das Heidentum, den Humanismus und die Renaissance. Kein Wunder also, dass die Universitäten diesen Antiintellektuellen ablehnten und dass sich die deutschen Humanisten, die ihn anfänglich begrüßten, von ihm abwandten, sobald sie sahen, „wohin die Reise ging“ – Erasmus, Adelmann, Pirckheimer, auch der eher „antiklerikale“ Reuchlin.

Luther war – ich wiederhole es – als Konservativer gegen die „damalige Moderne“, aber die katholische Kirche ist nicht „konservativ“ in einem nur rückblickenden Geist, sondern in einem gewissen Sinn „additiv“. Alles sich Entfaltende, Wachsende ist „additiv“, da neue Zellen organisch hinzukommen, die aber natürlich „genetisch“ schon vorprogrammiert sind. So wird ein echtes Dogma nie abgeschafft werden, wohl aber ein weiteres, ein neues hinzukommen, oder auch ein altes besser oder deutlicher interpretiert. Für diesen Vorgang, für dieses Wachstum der Kirche haben wir ja ihre petrinische Magistratur, die sowohl für die Bewahrung, die Säuberung als auch für die Entwicklung zuständig ist.

Martin Luther – ein Erzbischof Lefèbvre seiner Tage

So gesehen ist Martin Luther ein Erzbischof Lefèbvre seiner Tage. Man sollte weder beim verstorbenen Erzbischof noch bei Luther an dem sehr ernsten, wahrhaftig religiösen Anliegen zweifeln oder gar in Luther einen reinen Neurotiker sehen, einen Mönch mit verfehlter Berufung, der um jeden Preis eine adelige Nonne heiraten wollte. Es hat sehr wenig Sinn, auf seine theologischen Irrtümer und geistigen Fehlleistungen akribisch hinzuweisen und schon gar nicht auf jene zahlreichen Reaktionen und Äußerungen, die bei diesem cholerischen, zu Übertreibungen neigenden Mann oft wirklich bestürzend sind. Das aber ist immer wieder etwas einseitig getan worden.

Luther gehört, obwohl erst 1483 geboren, ganz und gar dem Mittelalter und nicht der Neuzeit an. Dennoch wurde er zum „Beender“ des Mittelalters (viel mehr als Kolumbus), wobei wir uns vor der Glorifizierung des Mittelalters hüten müssen. Auch der Schreiber dieser Zeilen gehörte sehr lange jener romantisch-katholisch-konservativen Schule an, die von der Vision lebte und geplagt wurde, dass das herrliche Mittelalter zu Ende ging, weil nach dem Fall von Konstantinopel griechische Gelehrte mit fetten Manuskripten und Statuetten nackter Göttinnen nach Rom kamen und eine „Neue Freiheit“ verkündeten. Die Krönung dieser Freiheitsbewegung war dann Luther, der auch die religiöse Freiheit verlangte. Von da aus führte ein gerader Weg zur Aufklärung, zur Französischen Revolution, zur Demokratie, Liberalismus, Nationalsozialismus und International-Sozialismus, zu den kannibalischen Orgien unter Mao und zu den Mordorgien unter dem ehemaligen Sorbonne-Studenten Pol Pot.

Diese Entwicklungslinie wurzelt aber ganz und gar nicht in der Reformation. Sebastian Frank, der sich anfangs zu Luther bekannte, bestand darauf, dass man nun überall wie in einem Kloster leben sollte. Viel ärger noch ging es allerdings in Genf unter Calvin zu, wo Europas erster totalitärer Staat entstand. Kommissionen untersuchten Haushalte, ob sie nicht zu viele Töpfe mit Marmelade besäßen oder den Dienstmädchen Seidenschürzen schenkten. Die terrorisierten Bürger wurden auf Schritt und Tritt überwacht.

Die große Katastrophe, die aber dann den „Protestantismus“ ereilte, war die Erste Aufklärung, die die Französische Revolution mit ihren sagenhaften Gräueln zur Folge hatte. Die Erste Aufklärung – wir haben heute eine Zweite – überwältigte die evangelischen Bekenntnisse, weil sie erstens kein Magisterium besaßen, und zweitens in Lokalkirchen zersplittert waren. Diese falsche Liberalisierung kam aber eben nicht aus der reformatorischen Erbschaft. Die Wurzel ist eine ganz andere. Es ist die agnostische Degeneration des christlichen Humanismus, der mit Pico della Mirandola, Marsilio Ficino und Vittorino da Feltre so gut angefangen hatte, aber auch Pomponazzi und später noch Giordano Bruno und Gassendi hervorbrachte. Von den Britischen Inseln steuerten die „Sensualisten“ das ihre zu diesem Prozeß bei. Durch das ganze neunzehnte Jahrhundert zog sich die geistige Auflösung der Reformationsreligionen, ein Prozess, der von „oben“ nach „unten“ verlief und dann in unserem Jahrhundert zur völlig zersetzenden Bibelkritik führte. Die katholischen Gläubigen sind natürlich heute denselben oder ähnlichen Negativfaktoren der Zweiten Aufklärung ausgesetzt – auch als Globalkirche mit einem feststehenden Magisterium –‚ aber eben deswegen doch besser gerüstet und nicht wehrlos. Dem Gläubigen kann klar gemacht werden, was richtig und was falsch ist, was de fide gilt oder nur eine theologische Meinung darstellt. Das hätte auch Karl Barth – neidvoll? – eingestanden.

An der „Moderne“ mit allen ihren namenlosen Gräueln sind jedoch Luther und die anderen Reformatoren unschuldig. Der deutsche Bundespräsident Roman Herzog bezeichnete 1996 – anlässlich des 450. Todestages von Martin Luther – den Reformator als Vorvater der Moderne. Ein Glück, dass diese wohlgemeinte, aber doch ungeheuerliche Anklage nicht aus dem Mund eines katholischen Christen kam! Die Reformation war als „konservative Revolution“ für einige Jahrhunderte erfolgreich, aber einige Jahrhunderte sind für Gott nicht einmal ein Augenblick. Was aber ist die Moderne politisch? Heute – 1997 – könnte man sagen: die Vorherrschaft der Demokratie, des Liberalismus und der Naturwissenschaften einschließlich der Technik, wobei aber auch zu bedenken ist, dass Plato und Aristoteles in der Demokratie die Vorstufe zu einer egalitären Tyrannis sahen. Die Demokratie fordert Gleichheit und Mehrheitsherrschaft, Begriffe, die Luther auf das Schärfste bekämpfte, denn für den „gemeinen Mann“ hatte er nichts als Verachtung, wenn nicht sogar Hass übrig. Wie schrieb er doch in seiner Kirchenpostille „Am Tage der Opferung Christi in dem Tempel“: „Also muß die Obrigkeit den Pöbel, Herrn Omnes treiben, schlagen, würgen, henken, brennen, köpfen und radebrechen, daß man sie fürchte, und das Volk also in einem Zaune gehalten werde. Denn Gott will nicht, daß man das Gesetz dem Volke allein vorhalte; sondern daß man auch dasselbe treibe, handhabe und mit der Faust ins Werk zwinge… Also ist es nötig, daß die Treiber des Gesetzes über dem Volke halten, und den rauhen ungezogenen Herrn Omnes zwingen und treiben, wie man wilde Tiere treibe und zwinge.“ Und in seinen „Tischreden“ hören wir klipp und klar: Principes mundi sunt dei, vulgus est Satan. Das alles klingt kaum „demokratisch“ und wurde in ähnlicher Weise von keinem katholischen Theologen gesagt. Auch seine folgende Äußerung klingt nicht liberal: „Daher so große Klage ist über Gesind und Dienstleute in der Welt. Es ist des Teufels und des Papstes Schuld und der Fürsten, daß kein Regiment ist, es thut jedermann, was er will.“ Oder auch: „Der Esel will Schläge haben und der Pöbel will mit Gewalt regiert werden: das wußte Gott wohl.“

Man könnte noch viele solcher Aussagen zitieren und den Niederschlag solcher Theorien sieht man in den Statistiken. So wurden in Großbritannien im Jahre 1811 über 6.400 Menschen zum Tode verurteilt, im napoleonischen Frankreich bei einer damals mehr als zwei Mal so großen Bevölkerung 392, was eine Relation von 1 zu 42 ergibt.

Wenn man in der Christenheit nach demokratischen Ideen sucht, findet man diese eher bei einer Reihe von mittelalterlichen und auch neuzeitlichen Sekten, aber ebenfalls beim Jesuiten Francisco Suárez, dessen naturrechtliche Theorien fernab vom „leidenden Gehorsam“ Martin Luthers waren. Auch aus den Werken von Bellarmin lässt sich eine demokratische These herauslesen!

Oft wird Luthers rabiater Judenhass als Vorstufe und Inspiration zur Schoah zitiert, aber dieser Hass war keineswegs rassisch bedingt, obwohl der Reformator sehr „national“ fühlte und für Nichtdeutsche kaum gute Worte hatte. Es stimmt, dass er alle Synagogen niederbrennen wollte und darauf bestand, auch die übriggebliebenen Eckpfeiler einzureißen, dass man die Juden und Jüdinnen zwingen sollte, im „Schweyss ihrer Nasenlöcher“ mit Schaufel, Rechen, Äxten und Spinnrocken zu arbeiten, oder auch, englischem und spanischem Beispiel folgend, sie nach Verbrennung ihrer Bücher auszuweisen. Tatsächlich hat Streicher in Nürnberg gesagt, dass Luther, wäre er noch am Leben, neben ihm auf der Anklagebank säße.

Doch die Ursache von Luthers Wut ist nicht „biologisch“, sie ist lediglich seinem cholerischen Temperament zuzuschreiben. Da er überzeugt war, dass der Papst der Antichrist wäre und die Ansicht herrschte, dass die Bekehrung der Israeliten das Kommen des Antichrist verkünde, wollte er deren Massenbekehrung inszenieren und schrieb zu diesem Zweck ein einladendes Büchlein: Das Jhesus Christus eyn geborener Jude sey. Doch das erhoffte Echo blieb völlig aus – daher die Wut, die seiner Enttäuschung entsprang.

Auch dass Luther als Befürworter einer persönlichen Auslegung der Bibel sehr liberal war, ist ein (eher katholisches) Ammenmärchen. Er glaubte an die Unfehlbarkeit, freilich nicht an die des Papstes, sondern an seine eigene. Es fragt sich überhaupt, wie man liberal sein kann, wenn man an der Freiheit des Willens zweifelt und im Menschen nur eine Marionette, einen Hampelmann Gottes, sieht?

Die dolce vita ist katholisch, nicht evangelisch

Welche Auswirkung aber hatte die Reformation auf die katholische Kirche? Ohne Luther hätte es kein Konzil von Trient gegeben, keine Gegenreformation, keinen Übergang von der Renaissance zum Barock und vom Barock zum Rokoko und auch nicht die vielen Heiligen, die der Stolz unserer Kirche und unseres Glaubens sind. (…) Ohne Reformation hätte es eben keine katholische Erneuerung gegeben und damit keine katholische Blütezeit. Wir gingen mit dem Konzil von Trient durch einen wahrhaft homöopathischen Heilungsprozess… Wer an die Versprechung Christi glaubt, bis an das Ende der Tage bei uns zu bleiben, kann darüber hinweggehen, aber historisch betrachtet stimmt es, wenn man in der Reformation ein Ereignis sieht, das der katholischen Kirche und ihrem Glauben einen großen Aufschwung, ja die wahre Profilierung gegeben hat. Man darf auch nicht vergessen, dass der „Protestantismus“ der Welt keine neue Kultur gegeben hat, dass zum Beispiel die aufblühende Malerei in den deutschen Landen im Keim erstickt wurde. Es gibt zwar eine Reihe von bedeutenden, evangelisch geborenen Schriftstellern und Künstlern – denken wir da nur an J. S. Bach, an Händel, Rembrandt, Turner, Whistler, Milton, Goethe und Schiller, um nur die Spitzen zu erwähnen, aber die Tatsache bleibt bestehen, dass die „Kunst die Enkelin Gottes“ ist, also die Tochter der Kirche. Man bedenke, dass die erste Kirche nach der Reformation in Leipzig erst 1870 gebaut wurde. Dabei soll gar nicht geleugnet werden, dass es im evangelischen Bereich Europas mehr Naturwissenschaftler und Technologen, daher auch mehr Telefonanschlüsse, Fernseher und Badezimmer gibt als in der katholischen Domäne. Aber der geistig-künstlerische Touristenstrom wird, ob in Europa oder der ganzen westlichen Hemisphäre, immer vom Norden in den Süden gehen und nicht umgekehrt. Die dolce vita ist katholisch und nicht evangelisch. (…)

Wir müssen uns also vor Augen halten, dass sich der katholische Geist als „allerweltlicher Geist“ in seinem heutigen intellektuellen und künstlerischen Wesen zu einem nicht geringen Teil im Widerspruch zur Reformation herausgebildet hat. Vieles, was wir als „echt katholisch“ empfinden, ist eigentlich durch die Reformation ausgelöst worden.

Ist es vermessen, diese für uns so positive Rolle der Reformation als gottgewollt anzusehen? Wir können die „göttliche Ökonomie“ schwer durchschauen. Sicher ist, dass die zweihundert Jahre nach Luther eine katholische Hoch-Zeit waren: All die Heiligen, viele von ihnen Märtyrer, große Theologen, herrliche Kirchen- und Klosterbauten und schließlich die Missionen, die ihre Arbeit im ganzen Erdkreis primär oft „rational“ beginnen mussten. Zweifellos können wir den Glauben nicht rein fideistisch verbreiten. Das Herz kann zwar durch die Kunst angesprochen werden, aber das Hirn nur durch die Ratio. Dies hatten die Jesuiten in Polen, einem Land, das im sechzehnten Jahrhundert zu einem Drittel calvinistisch und zu einem weiteren Drittel sozinianisch-unitarisch war, als Gegenreformatoren wohl gewusst. Es waren auch die Jesuiten, die die Gloria des barocken Stils förderten und die Schöpfer des modernen Theaters waren. Freilich spielte auch das „Glück“ eine Rolle: Die Reformatoren versprachen den Fürsten eine willige Kirche und viel Vermögen, aber die Häuser Wittelsbach und Habsburg blieben standfest…

Vor einem evangelischen Kirchentag wäre Luther geflohen

Die Reformation war bitter notwendig, um die Kirche zu stärken und zu erneuern. Das Konzil von Trient kann an konstruktiver Bedeutung in diesem Jahrhundert nur mit dem ersten Vatikanum verglichen werden. Was der „Protestantismus“ heute in Europa darstellt, hat Luther (doch ein genialer Mann!) natürlich nicht gewollt – sicher keine EKD, wie sie sich heute auf Kirchentagen darstellt. Müsste er einen solchen besuchen, würde er wohl Hals über Kopf ins nächste Augustinerkloster fliehen. Und was könnte er schon mit Bultmann anfangen? (…)

Luther war eine tragische Figur, oft ein großer Hasser, der aber dann doch dem Ablassprediger Tetzel vor dessen Tod einen sehr warmherzigen Brief schrieb und ihn von aller Schuld freisprach; sicherlich ein Gegner, aber doch auch ein Wohltäter unserer Kirche. Gott schreibt eben gerade auf krummen Zeilen. Wir müssen seine Tätigkeit heilsgeschichtlich betrachten. Auch die uns so unglückselig erscheinende „Reformation“ (die ja unter Anführungszeichen gesetzt werden muss) hat anscheinend Ad maiorem Dei et Ecclesiae gloriam stattgefunden.

Auszug aus Erik von Kuehnelt-Leddihn: „Die Reformation“ in: „Kirche kontra Zeitgeist“. Verlag L. Stocker, Graz-Stuttgart 1997