Luthers Biographie

Martin Luther – Was war er für ein Mensch?

Von Andreas Theurer

 

Wer war Martin Luther?

Geboren wurde Martin Luther am 10. November 1483 in Eisleben, wo er am folgenden Tag auf den Namen des Tagesheiligen getauft wurde. Seine Eltern stammten aus dem aufstrebenden Bürgertum des Bergbaumilieus im Mansfelder Land. Über seinen Vater berichtete er selbst, dass dieser bisweilen ziemlich brutal war und dem kleinen Martin solche Angst einflößte, dass er sich nur langsam wieder an ihn gewöhnen konnte. Ob hier die für Luther so drängende Frage nach Gott als dem barmherzigen Vater neben der unbestreitbar wichtigen theologischen auch noch eine persönlich-psychologische Komponente bekam?

Im Jahr 1505 trat er in Erfurt in den Orden der Augustiner-Eremiten (OESA – heute OSA) ein. Die Gründe dafür sind unklar. Die lutherische Legende nennt als Auslöser ein Gewitter, in dem der junge Jura-Student aus Angst den Ordenseintritt gelobte. Andere Zeugnisse von Luther und seinen Zeitgenossen nähren den Verdacht, dass er sich durch seinen Ordenseintritt der Strafverfolgung nach einem Totschlag im Duell entziehen wollte. Gewissheit wird über diese Frage kaum zu erreichen sein. Er wurde jedenfalls Priester, stieg im Orden rasch auf und wirkte als Vizeprovinzial und an der neu gegründeten Universität in Wittenberg als Theologieprofessor. Die quälende Gewissensnot, die ihm seine gefühlte Sündhaftigkeit bereitete, wurde für ihn in dieser Zeit immer drängender und kristallisierte sich schließlich in der Frage nach dem barmherzigen Gott.

 

Wie finde ich einen gnädigen Gott?

Wie kann ich erreichen, dass Gott mir gnädig ist? In unserer heutigen Zeit scheint das nur noch wenigen Menschen eine wichtige Frage zu sein. Zu selbstverständlich sind wir von der Rede vom „lieben Gott“ geprägt, der uns doch niemals ernsthaft zürnen könne, der uns nach unseren kleineren oder größeren Fehltritten doch immer wieder annimmt, „wie wir sind“. Dass genau dies aber keineswegs selbstverständlich ist, sondern – im Gegenteil – das Resultat eines Dramas von geradezu kosmischen Dimensionen, das war damals den meisten Menschen wohl bewusst.

Wie geht der zugleich gerechte und uns liebende Gott mit unserer Sünde um? Was tut er und was muss ich tun, damit er sie mir vergibt? Fasten, Wallfahrten, möglichst viel beten, fromme Stiftungen, ins Kloster gehen, Ablässe erwerben? Welche Rolle spielen dabei die Heiligen, Maria, ja Jesus selbst? Auf diese Fragen gaben viele Priester, Bischöfe und sogar Päpste damals Antworten, die heute zurecht Anstoß erregen. „Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegfeuer springt“ – das war ja leider nicht nur eine Karikatur, sondern die vielfache Realität des leichtfertigen kirchlichen Umgangs mit dieser extrem wichtigen Frage.

Hier hat Luthers populäres „Turmerlebnis“ seinen Platz. Nach eigener Darstellung kam ihm im Turm (also auf der Toilette) des Klosters der befreiende Gedanke, dass Gott uns seine Barmherzigkeit „allein aus Gnade“ und nicht als Belohnung für unsere Frömmigkeit zuwendet. Diese – schon lange auch von der katholischen Theologie als richtig anerkannte – Erkenntnis wurde nun in den folgenden Jahren zum Schlüssel und zur Triebfeder für die Ereignisse, die man dann als „Reformation“ bezeichnete.

 

95 Thesen gegen den Ablasshandel

Im Herbst 1517 veröffentlichte er – ursprünglich als Beitrag zu einer akademischen Diskussion – „95 Thesen gegen den Ablasshandel“, die sich bald in ganz Deutschland verbreiteten. Seine in der Folgezeit immer massiver vorgetragene Kritik an Papsttum und scholastischer Theologie vereinigte sich mit einer damals in weiten Kreisen latenten Abneigung gegen den weltlichen Einfluss der Kirche und ihre verweltlichten Amtsträger. Mächtige Fürsten standen ihm bei und schützten ihn, als er von Papst und Kaiser mit Ketzerprozess und Reichsacht verfolgt wurde. Während er auf der Wartburg versteckt wurde, übersetzte er erstmals aus den Ursprachen (nicht wie bisher üblich aus dem Lateinischen) die Bibel ins Deutsche und setzte damit Maßstäbe, die bis heute wirksam sind.

In anderen Gebieten Mitteleuropas traten weitere große Reformatoren mit durchaus eigenständigem theologischen Profil auf und nutzten die allgemeine Krise zur Etablierung neuer Kirchentümer (Zwingli in Zürich, Calvin in Genf, König Heinrich VIII. in England). Innerhalb weniger Jahre vollzog sich so in Deutschland und vielen weiteren Ländern Europas eine bis heute wirksame Spaltung zwischen Altgläubigen („Katholiken“) und Neugläubigen, die sich seit 1529 im Anschluss an den Protest von sechs Fürsten und den Vertretern von 14 Reichsstädten gegen die kaiserliche Religionspolitik „Protestanten“ nannten.

 

Polemische Schriften gegen Andersdenkende

Luther wurde nun immer mehr zur Symbolfigur des Widerstandes gegen die Papstkirche und zum Neuorganisator („Reformator“) des kirchlichen Lebens. Gleichwohl trat er in heftigsten Gegensatz zu den konkurrierenden Reformatoren, die sich mit ihm gerne zusammengetan hätten, weil sie ihr Anliegen als gemeinsames ansahen, während Luther sich von Zwinglianern, Calvinisten und Wiedertäufern wegen ihrer symbolischen Sakramentendeutung aufs Heftigste distanzierte. Dabei gewöhnte er sich im Lauf der Jahre auch einen immer gröberen und ausfälligeren Ton gegenüber all denen an, die ihm und seiner Theologie widersprachen. Wer ihm und seinen Lehren nicht folgen wollte, wurde von ihm in hässlichster Weise in polemischen Schriften angegriffen, wie z. B. außer dem „vom Teufel gestifteten“ Papsttum auch die aufständischen Bauern 1525 oder die Juden 1543.

1525 heiratete er die geflohene Nonne Katharina v. Bora, mit der er in 20 Jahren Ehe sechs Kinder zeugte und die ihm, der stets eine große Tafel mit vielen Gästen pflegte, „den Rücken freihielt“. Bis in die Gegenwart wird die Ehe Luthers als Maßstab und Folie für die kulturprägende Institution des evangelischen Pfarrhauses hochgehalten.

 

Grenzen protestantischer Glorifizierung

Seine Maßlosigkeit im „Fressen“ und beim Alkoholkonsum (die er selbst beschrieb!), belastete seine Gesundheit schwer und am 14. Februar 1546 starb er während eines Besuchs in seiner Heimatstadt Eisleben im Alter von 62 Jahren. Während seine katholischen Gegner seinen Tod als Selbstmord und seine Beerdigung als Höllenfahrt beschrieben, stilisierte die protestantische Propaganda ihn zum glaubensstarken Kämpfer für Gewissensfreiheit oder gar zum deutschen Nationalhelden.

Unbestreitbar sind tatsächlich seine Verdienste um die Vereinheitlichung der deutschen Schriftsprache, wie er sie durch seine Bibelübersetzung prägte und etablierte, oder für das deutsche Kirchenlied. Unbestreitbar ist auch seine tiefe Sehnsucht nach dem barmherzigen Gott, der den Menschen „ohn all Verdienst und Würdigkeit“ zur himmlischen Seligkeit beruft. Bei seinem Besuch in Erfurt würdigte Papst Benedikt XVI. genau dies an Luther, dass er ein „Gottsucher“ gewesen sei.

Äußerst fragwürdig bleibt jedoch sein mit den Jahren immer mehr pathologische Züge annehmender Hass auf die katholische Kirche und alle seine Gegner.

 

Luthers Nachwirkung

Das Luthertum, wie es sich in den Jahrzehnten nach Luthers Tod etablierte, entwickelte eine staunenswerte Dogmatik und Systematik, in der alle theologischen Themen bis in die subtilsten Einzelheiten definiert und erklärt wurden. Die „lutherische Orthodoxie“ wurde (zumindest in der Sicht ihrer innerprotestantischen Gegner) geradezu zum Sinnbild theologischer Spitzfindigkeit und Buchstabengläubigkeit.

Fatal wurde die völlige Abhängigkeit von den weltlichen Fürsten, die nicht nur, in Ermangelung protestantisch gewordener Bischöfe, an deren Stelle traten und die Positionen der Kirchenleiter übernahmen. Es ist nicht verwunderlich, dass seither der „Mainstream“ der protestantischen Theologie immer auf Seiten der jeweils mächtigen Strömungen in Geistesleben und Politik stand.

Nach der Aufklärung, in der die (zwangsweise) Vereinigung der Lutheraner mit den Reformierten (Calvinisten und Zwinglianer) in vielen deutschen Gebieten durchgesetzt wurde, entstand mit dem „Neuluthertum“ vor allem im 19. Jahrhundert eine Renaissance der lutherischen Lehre in erneuter Abgrenzung von reformierter und katholischer Theologie. Besonders seit der Mitte des 20. Jahrhunderts jedoch, unter dem Einfluss von „historisch-kritischer Exegese“, „Feminismus“ und „sexueller Revolution“ zerfällt die einst auf der unbedingten Geltung von Heiliger Schrift und lutherischem Bekenntnis gegründete geistliche Kraft des Luthertums zu nahezu grenzenloser Beliebigkeit. Die Wurzel für diese beklagenswerte Entwicklung liegt freilich nicht in diesen äußeren Faktoren, sondern in der lutherischen Theologie und ihrer Zentrierung auf die persönliche Bibelauslegung selbst.

 

Unterschied zwischen Luther und heutigem Protestantismus

Bei aller Zustimmung oder Kritik zu Luther muss freilich stets bedacht werden: Wo heute „Protestantismus“ oder „Evangelische Kirche“ draufsteht, ist meist nur noch wenig „Luther“ drin. Deutlich weiter verbreitet ist dort heute in den einstmals unterscheidenden Fragen die „reformierte“, also eben nicht (mehr) die lutherische Theologie! Auch die von pietistischer Frömmigkeit bestimmten Erweckungsbewegungen, von denen heute ein Großteil der an der Basis aktiven evangelischen Christen geprägt ist, orientieren sich weniger an Luther, als an ihrer eigenen – oftmals stark von ihm abweichenden – Bibelauslegung. Im weltweiten Protestantismus außerhalb Deutschlands und Skandinaviens spielt Luther nur noch eine untergeordnete Rolle. Man ehrt ihn zwar als Auslöser der Reformation und Vorkämpfer der freien Bibelauslegung, richtet sich aber eher selten konkret nach seinen Lehren.

Wenn wir uns mit dem Phänomen Luther beschäftigen, muss uns also klar sein – und das fällt besonders Katholiken oft schwer – dass er im Protestantismus bei weitem nicht die Stellung hat, wie der Papst für die Katholiken. Ein Protestant kann Luther kritisieren, oder sich sogar scharf von ihm distanzieren – ohne sich auch nur ansatzweise vom Protestantismus abzuwenden. Daher ist es für die Auseinandersetzung mit Luther unerlässlich, auch immer zugleich das Ganze des Protestantismus in den Blick zu nehmen. In diesem Sinne sollen in den weiteren Folgen dieser Serie Einzelfragen der evangelischen Theologie beleuchtet und jeweils an der katholischen Position gemessen werden.

 

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 6/Juni 2016. Der Text wurde leicht gekürzt.